Selbstbestimmung durch Fremdbestimmung - Ein Euphemismus ?
- Anna Lea Lippmann
- Feb 6, 2020
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Updated: 2 days ago
Über die ,,Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange" - Eine Schrift von Anna Lea Lippmann
,,Was ich lerne ist etwas anderes: zu unterscheiden zwischen einer Beeinflussung, die mich von mir selbst entfremdet, und einer anderen, die mich freier macht, indem sie mich an mich selbst heranführt" (Bieri, 2019).
Dieses Zitat des Schweizer Philosophen Peter Bieri soll in das vorliegende Thema einführen. Wie tragen politische Bildungsangebote zu einer Mündigkeit ihrer Bildungsteilnehmenden bei und welche besonderen Hürden gilt es dabei zu bewältigen ? Das Begriffspaar der Fremd- und Selbstbestimmung schließt hierbei ein Spannungsfeld auf, welches es genauer zu untersuchen gilt.
Zwei Perspektiven zum Verständnis von Mündigkeit
Es gibt zwei Perspektiven zum Verständnis von Mündigkeit, die sich in einem Antagonismus gegenüber stehen. Dazu gehört zum Einen die reflexive, nicht-dichotome Perspektive, begründet nach dem deutschen Philosophen Theodor W. Adorno. Diese fragt danach, inwiefern sich Fremd- und Selbstbestimmung gegenseitig dienlich sein können, also wie diese durch eine perpetuelle Beziehung Formen der Mündigkeit generieren können: Wie kann Selbst- durch Fremdbestimmung im bildungspolitischen Kontext gelingen ?
Dieser gegenüber steht die binär-dichotome Perspektive. Hier werden Fremd- und Selbstbestimmung als unvereinbare Gegensätze betrachtet. Statt einer Synthese setzt man ein Verhältnis von “Entweder- Oder“ voraus. Es ist auch die Perspektive die uns rein intuitiv mehr zuzusagen scheint. Dies dürfte an der emanzipatorischen Konnotation liegen, welche wir einer binär-dichotomen Perspektiv mit einem absolutem Begriff von Selbstbestimmung eher bereit sind zuzugestehen, als einer Perspektive die uns ein Paradoxon abverlangt, indem diese die Begriffe von Fremd- und Selbstbestimmung miteinander verblendet, was unseren Vorstellungen und Assoziationsmustern von Integrität und Autonomie vorerst zuwiderläuft. Der Begriff der Fremdbestimmung soll nun in dessen Beziehungsgefüge, wie es aus der zuletzt genannten Perspektive hervorgeht, in einem neuen Licht erhellt werden, jedoch ohne dabei ein Postulat für das Moment totaler Fremdbestimmung formulieren zu wollen.
Der Begriff der Mündigkeit
Es muss zunächst der Begriff der Mündigkeit genauer definiert werden. Laut Immanuel Kant, dem deutschen Philosophen der Aufklärung und Wegbereiter der modernen Philosophie, zielt Mündigkeit zunächst ,,[...] auf die Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten des Einzelnen ab“ (Müller, 2019). Der Mensch soll selbstständigen Gebrauch von seinem Verstand machen, er soll sich seines eigenen Verstandes bedienen: ,,Sapere aude”. Eine Abgabe der Anstrengungen an andere, welche ideal alleinig seinem Verstand anfallen, ist nicht erwünscht.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass man es nicht außer Acht lassen darf, dass der gemeine Mensch immer eingebunden ist in ein gesamtgesellschaftliches System, innerhalb dessen durch Operationen jeweiliger Instanzen, seine Freiheit nicht ganz unerhebliche Einschränkungen erfahren kann. Daran wird bereits ersichtlich, dass eine binär-dichotome Perspektive von Fremd- oder Selbstbestimmung wenn überhaupt einem vereinfachten Schwarz-Weiß-Gebilde entsprechen kann, dass jedoch an der Vielschichtigkeit von Gesellschaft scheitern muss, denn man kann die Gesellschaft nicht von jedweden (missliebigen) Einflüssen purifizieren. Die sozialwissenschaftliche Fachdidaktik bezieht sich beispielsweise grundsätzlich auf eine nicht-dichotome Perspektive, welche eine ,,Unterscheidung eines instrumentellen und eines subjektbezogenen Verständnisses von Schülerorientierung“ ermöglicht (Autorengruppe Fachdidaktik 2016).
Innerhalb institutioneller Bildungskontexte ist genau jene Unterscheidung von Relevanz. So stellt sich hier die Frage, inwiefern ,,auch eine fremdbestimmte Gestaltung von Lernumgebungen Momente von Selbstbestimmung hervorbringen kann“ (Müller, 2019). So entspricht die Schule doch vor allem einer Institution der Fremdbestimmung, ,,denn sie versetzt die Subjekte zunächst in einen organisierten Modus von Abhängigkeit, Anweisung und Unterweisung, damit diese dadurch demnächst mündig(er) werden“ (Autorengruppe Fachdidaktik 2016).
Eine Anleitung zum ,,guten" Gebrauch der eigenen Freiheit
Man kann sagen, dass in der sich daraus ergebenden Widersprüchlichkeit jenes Potential für eine heilsame Koexistenz von Fremd- und Selbstbestimmung liegt, welches ,,[...] auf der Ebene des [...] Unterrichts in einem In -, Mit - und Gegeneinander sichtbar [...] (wird) “(Müller, 2019). Entscheidend hierbei ist, inwieweit bildungsinstitutionelle Fremdbestimmung sich an einer Erweiterung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten ihrer Adressaten beteiligen kann, damit man sie im Sinne des humanistischen Anliegens als erfolgreich erachten kann. Dabei darf sie ihre Funktion keinesfalls in Instrumentalisierungen verfehlen und muss sich von jedweden Intentionen lossagen, die nicht zum Wohle ihrer Adressaten gereichen.
Bestenfalls erhält der Lernende durch den Lehrenden eine zunächst fremdbestimmte Anleitung zum ,,guten“ Gebrauch der eigenen Freiheit. Kant spricht von der ,,Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange“: ,,Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen" (Kant 1784/1983). Kant erhebt die Frage wie Kinder zur Einsicht, sprich zum selbstständigen Gebrauch ihres Verstandes gebracht werden können. Das Kind solle die Angemessenheit der moralischen Prinzipien, an denen sein Handeln sich zu orientieren habe, selbst erkennen. Letztlich käme es auf die Einsicht des Kindes an, auf dessen Urteil, welches auf den selbstständigen Gebrauch des eigenen Verstandes zurückginge (vgl. Koller, 2017). Solche Genese einsichtiger Zustimmung zu moralischen Prinzipien dürfte auch für Erwachsene geltend gemacht werden können.
Über den ,,Doppelcharakter der Kultur"
Ich möchte nun das Beziehungsgefüge der Selbst- durch Fremdbestimmung noch um einen weiteren Aspekt ergänzen. Es war Adorno, welcher die Theorie der Halbbildung begründete, deren Gedankenfigur ich kurz näher erläutern möchte, da diese einem besonderen Verständnis unseres gegenwärtigen Zeitgeistes gereicht. Adorno spricht von einem sogenannten ,,Doppelcharakter der Kultur”. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass man Kultur sowohl in ,,Geisteskultur“ als auch in ,,Gestaltung des realen Lebens“ unterscheiden könne. Die ,,Geisteskultur” äußere sich durch eine Art der Halbbildung in Form des ,,allgegenwärtigen entfremdeten Geistes“. Schuld an dieser Entwicklung habe besonders die fortschreitende Ausweitung des kapitalistischen Prinzips, welches alle Lebensbereiche flutete und den Menschen zu einer unablässigen Adaptation an deren Regularien zwinge.
Bildung werde demnach zunehmend zur Funktion, sich erfolgreich im System von Produktion und Verwaltung zu behaupten, sie werde zur Qualifikation der Arbeitskraft im universellen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf (vgl. Bierbaum, 2003). Weitere Ausführungen Adorno´s Theorie der Halbbildung erinnern an unser postmodernes Zeitalter, in welchem wir zwar durch zahllose Kanäle mit Bildungsgütern beliefert werden, diese jedoch über den Marktmechanismus dem Bewusstsein derer angepasst werden, die vom Bildungsprivileg ausgesperrt sind und die zu verändern erst Bildung wäre. Man kann sagen, dass die Kulturgüter als Waren den Menschen von jeglicher eigens aufgebrachten geistigen Anstrengung beurlauben und diesen, ohne dessen Zutun, in einen bloßen Genuss scheinbarer geistiger Eigenständigkeit kommen lassen. Denn dem Menschen setzen sich nun nicht mehr jene Widerstände entgegen, die nötig wären, um in diesem einen Prozess von Bildung zu initiieren, der von einer unentwegten Interaktion zwischen ihm und der Welt lebt, der in der Hingabe an eine Sache impliziert ist.
So wird der Mensch zum passiven Rezipienten einer sorgfältig aufbereiteten Informationskultur, welche diesem tatsächliche Bildung verwehrt. So ist Bildung doch bestenfalls das Ergebnis einer vorangegangenen und nicht zu Ende gegangenen Pertubation des Menschen und dessen Auffassung von Natur und Welt, welche seine eigensinnigen und lebendigen Beziehungen unterhält. Statt das der Mensch mittels denkender Erfahrung und aufschließendem Begriff der schlechten Realität entwachsen würde, wird er von den ,,Wahnsystemen“ der Halbbildung mit Schemata zur Bewältigung jener miserablen Realität beliefert und vollzieht damit den ,,Kurzschluss in Permanenz” (vgl. Bierbaum, 2003).
Die Dialektik der Bildung
Angesichts eines pandemisch gewordenen Phänomen der Halbbildung bleibt lediglich der Versuch, die Dialektik der Bildung nach beiden Seiten hin aufrechtzuerhalten. Einerseits wäre Vorsicht bei Vorstellungen von Bildung angeraten, die zu einer Verabsolutierung der Autonomie des Geistes gegenüber der sozialen Realität tendieren. Solche Vorstellungen sind aufgrund der Abhängigkeit des Geistes von gesellschaftlichen Verhältnissen nicht minder eskapistisch und es wäre der unauflösliche Zusammenhang von Kultur und Bildung mit der Gestaltung des realen Lebens zu betonen. Wo andererseits das Geistige auf jene Abhängigkeit reduziert, jegliche Autonomie negiert und Bildung bloß als Anpassung an bestehende Verhältnisse geltend gemacht wird, wäre an das Moment von Wahrheit zu erinnern, welches in der Verselbstständigung des Geistes gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen enthalten ist. Oder wie Adorno so schön sagte, an die ,,Verheißung von Freiheit“. Eine verantwortliche und humanistisch gesinnte Bildungspolitik entlastet deren Bildungsteilnehmende nicht von deren Autonomie, sondern fördert durch Impulsgebung deren kognitive, konative und affektive Eigenständigkeit. Darin bestände ein wohlverstandenes Bestreben von Selbst- durch Fremdbestimmung.
Was ohne Schande, jenseits des Kulturfetischismus kulturell heißen darf, ist einzig das, was vermöge der Integrität der eigenen geistigen Gestalt sich realisiert und nur vermittelt, durch diese Integrität hindurch, in die Gesellschaft zurückwirkt, nicht durch unmittelbare Anpassung an ihre Gebote (Theodor W. Adorno).
Quellenverzeichnis:
Goehlich (2007): Lernen - ein pädagogischer Grundbegriff: Einleitung
Müller, Stefan (2019): Mündigkeit. Zwei Argumente für eine reflexive, nicht-dichotome Perspektive
Koller, Hans-Christoph (2017): Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft: 1.3 Kants Begriff von Erziehung, Stuttgart
Bierbaum, Harald (2003): Die Theorie der Halbbildung Adornos, 2.2. Zur Physiognomik der Halbbildung
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