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Lernen als ein organismisches Geschehnis - Bildung und Vorurteile

Anna Lippmann

Darüber, wie man zu einem Homöostat wird - Eine Schrift von Anna Lippmann


 

,,Alles was wir hören ist eine Meinung, nicht ein Faktum. Alles was wir sehen ist eine Perspektive,

nicht die Wahrheit.“

 

Dieses Zitat des römischen Philosophen Mark Aurel leitet sehr treffend in das folgende Thema ein, welches ich hier behandeln möchte. Lernen als ein organismisches Geschehnis. Die Welt erschließt sich dem Lernenden größtenteils subjektiv. Man stelle sich ein Kaleidoskop vor, bei dem durch mehrfache Spiegelung von bunten Glassteinchen im Innern, die sich durch ein Drehen jeweils anders zusammenfügen, wechselnde geometrische Bilder und Muster erscheinen. Ähnlich blickt der Lernende auf die Welt. Niemals wird er diese in ihrer Ganzheit zu fassen bekommen. Wohl aber kann er sich deren Komplexität und Pluralität bewusst werden.

 

Lernen, Erfahrung und Deutung


Uns soll nun primär die Bildung und Änderung von Vorurteilen interessieren und inwieweit diese den Fluss aktiven und selbstverantwortlichen Lernens behindern. Zunächst muss der abstrakte Begriff des Lernens genauer definiert und passend zum Thema in Kontext gesetzt werden. Man kann sagen, dass das Lernen als ein organismisch passierendes Geschehnis innerhalb des Individuum, sich aus der Interpretation und Addition von Erfahrungen ergibt. Es gibt wohl keine ungedeuteten Erfahrungen. Folglich kann das Leben als eine Serie an Deutungen vorangegangener Erfahrungen begriffen werden. Menschen versuchen ihre gemachten Erfahrungen zu verstehen, diese rationalisierbar zu machen, um diesen anschließend einen Sinn und damit eine Erkenntnis abzugewinnen, welche final in einer Form gewonnener Weisheit kristallisiert. Dieser Prozess zielt auf eine Handlungsfähigkeit ab, die erfahrungsbasierter Profundität erwächst und damit in einer Art personaler Fabrik optimierter Aktionsleistungen “ökonomisch” gemacht werden kann, um so dann gewünschte Erfolge mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit manifest werden zu lassen.


Doch so wie es mannigfaltige Perspektiven auf Mensch und Welt gibt, so gibt es zahlreiche Ansätze Erfahrungen zu deuten. Es ist der Kunstgriff der Hermeneutik der uns dabei hilft die übergeordneten Sinnstrukturen unseres Lebens und Handelns zu verstehen. Sicher ist das Menschen ihre Erfahrungen innerhalb habitualisierter Rahmungen deuten, die sich in der Vergangenheit als zuverlässig erwiesen. Sicher insofern, als das diese relativen und instabilen Rahmungen bisher noch nicht aufgegeben werden mussten. Zum Erhalt dieser Rahmungen bedarf es eines sehr empfindlichen Gleichgewichtes. Es ergibt sich daraus eine besonders hohe Störanfälligkeit. Doch ehe wir genauer darauf zu sprechen kommen, möchte ich vorerst versuchen zu erklären, wie Einstellungen unser Verhalten beeinflussen und welchen Verbindung diese zu Vorurteilen haben.

 

Zum Begriff der Einstellung


Einstellungen sind relativ beständige und erworbene Bereitschaften auf bestimmte Objekte kognitiv, gefühls- und verhaltensmäßig zu reagieren. So untersucht die Sozialforschung beispielsweise Einstellungen gegenüber Nationalitäten, Minderheiten oder Randgruppen. Je nach Erscheinungsbild einer Person neigen wir dazu aufgrund gesellschaftlicher Konditionierungen, Sozialisierungen und/ oder eigener Erfahrung(en), dieser mit bestimmten Vorurteilen zu begegnen. Hier spricht die Sozialpsychologie vom sogenannten ,,Attributionsfehler”. Dieser bezeichnet die Neigung, den Einfluss dispositionaler Faktoren wie es Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Meinungen sind, auf das Verhalten anderer systematisch zu überschätzen und äußere Faktoren dabei zu unterschätzen.

 

Lernen in der Kultur


Der Prozess des Lernens vollzieht sich grundlegend in soziokulturellen, politischen und sich historisch wandelnden Kontexten. Verhaltensweisen werden durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Wert- und Normvorstellungen bestimmt, kultiviert und damit letztendlich kultürlich. Um diese zu verändern müssen wir verstehen, wie unser Denken durch gesellschaftliche Dispositive gerahmt wird und wie wir diese geronnenen Strukturen aufbrechen können. An dieser Stelle möchte ich ein adäquates Zitat des Philosophen Peter Bieri aus seinem Werk ,,Wie wäre es gebildet zu sein“, erwähnen:

Wir wachsen mit bestimmten moralischen Geboten und Verboten auf, wir atmen sie ein mit der Luft des Elternhauses, der Straße, der Filme und Bücher, die uns erschüttern und prägen – in dem Alter also, in dem sich die innere Zensur ausbildet – , sie machen unsere moralische Identität aus und bestimmen unsere moralischen Empfindungen wie Entrüstung, Groll, Schuld und moralische Eitelkeit (Bieri, 2019).
 

Wie Vorannahmen zu Vorurteilen werden


Doch ab wann werden Vorannahmen zu Vorurteilen ? Zunächst kann man sagen, ein Vorurteil stelle eine besondere Form der Einstellung dar. Diese besondere Form der Einstellung zeichnet sich dadurch aus, dass deren apodiktisch wirkenden Vorannahmen meist nicht auf deren Richtigkeit überprüft werden. Damit einher geht eine positive oder negative Bewertung des Objektes, auf welches sich die Einstellung bezieht. Aus einer Vorannahme ist nun ein Vorurteil geboren worden. Meist verhalten sich Vorurteile resistent gegenüber neuen Erfahrungen und/ oder Informationen, welche eigentlich zur Neuformulierung deren vorausgesetzter Vorannahmen aufrufen.

 

Die Funktionen von Einstellungen


Wie aber kommt es nun dennoch zu Einstellungsänderungen und damit zum erstmaligen Verwurf von Vorurteilen ? Um diese Frage beantworten zu können muss man sich darüber klar werden, dass Einstellungen grundlegende Bedürfnisse des Menschen befriedigen. Wiederrum erfüllen und begünstigen Einstellungen verschiedene Funktionen. Die funktionale Einstellungstheorie nach Daniel Katz unterscheidet vier Funktionen. Einstellungen, die soziale Anerkennung und Erfolg versprechen, fallen unter den Begriff der ,,Anpassungsfunktion”. Hier werden positive Konsequenzen angestrebt, negative Konsequenzen sollen vermieden werden.


Ein jeder Mensch folgt (s)einer internalisierten “Werte-Topografie“, sprich der Festlegung seiner Ideale, Überzeugungen und Prinzipien, sofern er denn nicht in einem Moratorium der Identität gelandet ist. Ausdruck finden diese zentralen persönlichen Wertvorstellungen in der ,,Selbstverwirklichungsfunktion”. Diese dient der persönlichen Herstellung von Individualität und Identität.


Das Bedürfnis nach Sinn und Erklärung, nach Überschaubarkeit, Orientierung und Handlungsfähigkeit, wird durch die ,,Wissensfunktion” befriedigt. Hieraus können sehr starke Vereinfachungen resultieren, welche wiederum einen Nährboden für verschiedenste Stereotypisierungen und Stigmatisierungen liefern.


Die vierte und damit letzte Funktion bildet die ,,Abwehrfunktion”. Hier wird versucht mithilfe von Abwehrmechanismen ein Selbstbild am Leben zu erhalten, ganz gleich dessen Hinfälligkeit. Das Individuum möchte sich unerfreuliche Grundtatsachen des Lebens, unerwünschte Erfahrungen, Gefühle und Bedürfnisse fernhalten, welche internalisierte Glaubenssätze in Frage stellen könnten. Erst die Erkenntnis über den hierbei geleisteten Widerstand gegen das Neue und Unbekannte, kann und wird letztlich zu einer Einstellungsänderung führen.

 

Bildung bildet Identität


In diesem Zusammenhang schreibt Peter Bieri von der Notwendigkeit der Angewohnheit zur kritischen Selbstreflexion:

Der Gebildete – so lautet meine nächste Definition – ist einer, der über sich Bescheid weiß und Bescheid weiß, in welchem Sinne es schwierig ist, dieses Wissen zu erwerben. Er ist einer, dessen Selbstbild reflektiert ist und mit skeptischer Wachheit in der Schwebe gehalten werden kann. Einer, der um seine innere Vielfalt weiß und der zu unterscheiden versteht zwischen der Identität, die er aufbaut, um seinen sozialen Rollen zu genügen, und der brüchigen inneren Vielfalt, die den Gedanken Lügen straft, wir hätten eine eindeutige, kompakte Identität. Einer, der ein spielerisches Verhältnis zu der Unabgeschlossenheit und Flüchtigkeit von Selbstbildern hat, und sie als eine Form der Freiheit sehen kann (Bieri, 2019).

Dieses Zitat leistet die Hervorhebung der engen Beziehung zwischen Identität und Bildung und wie wichtig diese ist um durch bewusstes Einwirken jegliches Philistertum zu verhüten. Identität ist ein dynamisches Feld und so müssen auch Vorannahmen stetig auf deren Geltungsrechte überprüft werden, um einem jeden inadäquaten Vorurteil Einhalt zu gebieten.


Der Kritische Rationalismus, eine von Karl Popper begründete philosophische Denkrichtung, beschreibt eine Lebenseinstellung, ,,die zugibt, dass ich mich irren kann, dass du recht haben kannst und dass wir zusammen vielleicht der Wahrheit auf die Spur kommen werden.“ Auch hier möchte ich ein passendes Zitat von Peter Bieri anschließen:

Bildung ist deshalb subversiv und gefährlich, was Weltanschauung und Ideologie angeht, denn sie bringt das Bewußtsein der Kontingenz und also Relativität einer jeden Lebensform zu Bewußtsein (Bieri, 2019).
 

Das ,,Relativmoment"


In seiner wohlverstandenen Form geht Lernen mit einem Bildungsprozess einher, der das ganze Individuum mobilisiert und in Anspruch nimmt. Dabei entstehen neue Formen zur Erfassung von Mensch und Welt. In einer Welt, die metaphorisch gesprochen einer unbemalten Leinwand gleicht, kann es nur gesellschaftlich konstituierte Übereinkünfte geben. Auch diese gründen sich auf Vorannahmen, wie diese beispielsweise aus messbaren oder beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten in der Natur hervorgehen. Innerhalb dieser Gesetzmäßigkeiten hat der Mensch seinen Platz in der Welt und im Kosmos, verleihen ihm diese doch eine erste Stabilität und Orientierung. Der Kritische Rationalismus erinnert sich an das ,,Relativmoment" konstituierter Übereinkünfte und hat die Aufgabe gesellschaftliche aber auch personal geleistete Vorannahmen zu verifizieren oder gegebenenfalls zu falsifizieren.


Eine ähnliche Vorgehensweise beschreibt Habermas Diskursethik. Diese bezeichnet jene ethischen Theorien, deren zentrales Kriterium sich daran knüpft, dass die Richtigkeit deren geleisteter Aussagen mithilfe eines nach Regeln und eines nach vernünftigen Argumenten gestalteten Diskurses gewonnen werden. Über einen Argumentationsaustausch möchte man zur Entwicklung neuer Annahmen gelangen. Hierbei wird die Vernunft zum obersten Prinzip erklärt.

 

Der Mensch als ein bizarres Phänomen


Diese Vorgehensweisen erlauben jedoch meist nur einen pragmatischen und systemischen Blick auf Mensch, Welt und die diese umgebenden Phänomene. Dem gegenüber steht ein Begriff vom Menschen, welcher diesen als emotionales, seelisches und erregtes Wesen berücksichtigt. Hier wird der Mensch als ein tiefschichtiges und bizarres Phänomen verstanden, welches aus obskuranten Abgründen heraus handelt. Dieser Begriff vom Menschen ist jedoch nicht weniger wichtig um diesem mit möglichst holistischem Intellekt zu begegnen und zu verstehen. So haben Werte und Prinzipien ebenfalls emotionale und seelische Ursprünge und begründen sich nicht ausschließlich auf einer Ratio. Insbesondere Märchenerzählungen und anderweitige Überlieferungen offenbaren durch deren inhärenten moralischen Charakter, wie ein Mensch durch erlebte Erfahrung, also durch sein organismisches Eingebundensein, ja durch seine allumfassende Teilhabe am Moment zu wichtigen Werten gelangt ist, die ihm künftig eine unverzichtbare Leuchte auf dessen Weg sein werden.

 

Homöostaten im Equilibrium der Reife


Es ist nicht leicht sich einmal habitualisierter Glaubenssätze wieder zu entledigen. Doch indem wir Erfahrungen machen, welche unseren vorherigen widersprechen, geraten wir in einen inneren Konflikt und wir müssen uns mutig und beherzt in die zunächst unheimliche Leerstelle begeben, die unsere nun obsolet gewordenen Überzeugungen hinterlassen haben. Dadurch aber haben wir die Chance auf eine neue Balance. Wir werden zu den Homöostaten die zu einem weiteren Equilibrium der Reife vorgestoßen sind. Wichtig scheint auch die beidseitige Beachtung von Intellekt und dem Bereich des unsagbaren, unserer Gefühle, Emotionen und seelischen Regungen, wollen wir Lernprozesse möglichst ganzheitlich verstehen. Dann verstehen wir Vorurteile als eine Form der Lebensäußerung und als eine Station auf dem Pfad unseres gänzlichen Lernprozesses, welche bestenfalls temporär begründet sind.


















 

Quellenverzeichnis:


Bieri, Peter (2019): Wie wäre es gebildet zu sein ?




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